© Dagmar Servas. Die freie Künstlerin dokumentierte die künstlerischen Aktivitäten der Flüchtlinge in der ZEA Schnackenburgallee fotografisch.

Prof. Dr. Jan Sonntag ist seit 1999 als Musiktherapeut tätig. 2013 förderte ihn die Andreas Tobias Kind Stiftung bei der Erstellung seiner Dissertation zur athmosphärenbezogenen Musiktherapie für Menschen mit Demenz (mehr dazu hier). Dieses Jahr wurde er von der Medical School Hamburg (MSH) zum Professor im Studiengang „Expressive Arts in Social Transformation“ berufen. Seit anderthalb Jahren engagiert sich die MSH an der Zentralen Erstaufnahme Schnackenburgallee: In einem „Kunstzelt“  unter der Leitung der freien Künstlerin Dagmar Servas bieten weitere Künstler und Studierende unterschiedliche kreative Aktivitäten für die Flüchtlinge an.

Lieber Herr Sonntag, wie können wir uns die Aktivitäten im Kunstzelt genau vorstellen und wie werden sie von den Flüchtlingen angenommen?

JS: Das Kunstzelt wird als offenes Atelier geführt, in das an zwei Nachmittagen in der Woche Flüchtlinge jeden Alters eingeladen sind, sich künstlerisch zu betätigen. Die begleitenden KünstlerInnen stellen die Rahmenbedingungen her, sorgen für das Material, sind selbst künstlerisch aktiv oder greifen Impulse der Teilnehmer auf. Zunächst dachten die in der ZEA Lebenden, das Kunstzelt sei ein Angebot für Kinder. Nach und nach erkannten aber auch die Erwachsenen, dass sie dort Möglichkeiten des kreativen Ausdrucks und Austausches finden. Deshalb wird sehr auf die Wünsche der Atelierbesucher eingegangen, etwa wenn sie aus eigenem Antrieb in kulturelle Austausche gehen, sich gegenseitig Tänze und Musik aus ihrer Heimat zeigen. Wenn die Sprache nicht ausreicht, wird mit Händen und Füßen kommuniziert. Und manches versteht man ohne Worte.

Was bewirkt das Engagement bei den Studierenden selbst?

JS: Viele Studierende sind hoch motiviert, sich im Kunstzelt zu engagieren. Eine von ihnen arbeitet mittlerweile fest dort, eine achtköpfige Gruppe führte ihre Projekttage im Zelt durch und einige schlossen freiwillig noch ein Projekt während der vorlesungsfreien Zeit an. Nicht wenige unserer Studierenden stammen selbst aus Einwanderungsfamilien und sind sehr international orientiert. Das Konzept des offenen Ateliers als Begegnungsraum der Kulturen spricht sie an. Sie finden dort eine Gelegenheit, das im Studium Erlernte direkt in der Praxis zu erproben und fühlen sich in ihrer Studienwahl bestätigt.

Was sind die größten Herausforderungen, was die bisher schönsten Erfolge?

JS: Herausforderungen entstehen durch die hohen psychisch-emotionalen Belastungen, mit denen die Studierenden umgehen müssen. Insbesondere, wenn Sie eine der Sprachen der Flüchtlinge sprechen, werden Ihnen mitunter schlimme Geschichten vom Leben im Herkunftsland oder von der Flucht erzählt. Auch kommt es mitunter zu schwierigen Situationen, wenn Besucher des Kunstzelts die dort vorhandenen Medien nutzen, um sich politisch zu äußern, etwa indem sie Schriftzüge auf Arabisch gestalten, deren Bedeutung von den Begleitern nicht verstanden werden. Ein schöner Erfolg war, wie eine neue Studiengruppe die Arbeit von Studierenden älteren Semesters aufgegriffen hat, indem sie aus Interviews und Exponaten des Kunstzelts eine Aktion an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Rahmen der Langen Nacht der Museen durchführten. Und viele kleine Erfolge erleben die Beteiligten an jedem Öffnungstag des Zeltes.

Was sind die Ursprünge des künstlerischen Engagements der Medical School?

JS: Das Kunstzelt wurde in Kooperation mit der Luthergemeinde Bahrenfeld und den freien Künslterinnen Barbara Schäfer und Dagmar Servas im Rahmen des Bahrenfelder Stadtteilprojekts „Spuren hinterlassen“ initiiert und konnte glücklicherweise anschließend mit Mitteln der Stadt Hamburg unter der Leitung von Dagmar Servas weitergeführt werden. Von Seiten der MSH wird es durch den Künstler und Kunsttherapeuten Michael Ganz koordiniert.

Wie wird es mit dem Einsatz der MSH in Bezug auf das Kunstzelt weitergehen?

JS: Wir hoffen sehr, dass wir das Kunstzelt aufrechterhalten können. Es befindet sich nicht nur unter finanziellem Druck, sondern läuft auch Gefahr der eklatanten Raumnot in der ZEA zum Opfer zu fallen. Im Frühsommer wurde es bereits eine Zeitlang als Schlafzelt genutzt, und es kostete große Anstrengung, es wieder in seiner ursprünglichen Funktion herzustellen. Ausgehend von einem Netzwerktreffen an der Jugendmusikschule gibt es seit kurzem Austausch zwischen den Anbietern künstlerischer Projekte in der ZEA, an dem neben musiktherapeutischen Kolleginnen auch die künstlerischen Begleiter des Kunstzelts beteiligt sind.

Neben dem Kunstzelt kam es zu weiteren Projekten im Bezug auf das Flüchtlingsthema. In einer Hamburger Grundschule gestalteten Studierende in meiner Begleitung einen künstlerischen Begegnungsraum für die Schüler einer Flüchtlingsklasse und ihrer Patenklasse. Das Projektthema „Fremde Planeten“ hatte dabei durchaus auch symbolische Bedeutung. Das Grundschulprojekt wollen wir im kommenden Jahr wiederholen.

Schließlich hat sich in Kooperation mit der MSH das Netzwerk „Musiktherapie mit alten Menschen“ dazu entschlossen, seine diesjährige Tagung am 7.11.2015 in Hamburg unter das Thema Migration und Interkulturalität zu stellen. „Altern in der Fremde“ hat viele Gesichter und ist auch in der Altenhilfe ein hochaktuelles Thema. Info unter: www.almuth.net.

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