Mit Unterstützung der Andreas Tobias Kind Stiftung habe ich von 2015 bis 2018 ein Forschungsprojekt zum Belastungserleben und zur Behinderungs-verarbeitung von Eltern geistig behinderter Kinder sowie zum kurativen Potential der Musiktherapie durchgeführt. Das Forschungsprojekt wurde von Frau Prof. Dr. Rosemarie Tüpker an der Universität Münster betreut. Die Ergebnisse mündeten in meiner Dissertation, die im Juli 2020 im Reichert Verlag veröffentlicht wurde.

In der Dissertation habe ich 37 qualitative Interviews mit betroffenen Müttern und Vätern untersucht und dabei herausgearbeitet, welches Leid mit dem Behinderungstrauma in den Familien Einzug gehalten hat. Im Fokus stand dabei auch die Frage, wie es den betroffenen Eltern gelungen ist, ihr individuelles Trauma zu verarbeiten und zu bewältigen. Mit den Kindern aus den Familien habe ich parallel dazu Musiktherapien durchgeführt, um die Auswirkungen der elterlichen Behinderungsverarbeitung weiter zu untersuchen: Steht besonders belasteten Kindern auch in der Musiktherapie weniger Spielraum zur Verfügung?

In der übergreifenden Auswertung beider Untersuchungen konnten deutliche Anhaltspunkte gefunden werden, die einen Zusammenhang zwischen dem Behinderungstrauma der Eltern und dem Spielraum an Entwicklungs-möglichkeiten ihres Kindes erkennen lassen. Eltern mit Auflösung ihrer Traumatisierung berichten deutlich häufiger von responsiven und feinfühligen Spielsituationen. Ohne Auflösung beschreiben Eltern hingegen erheblich öfter, Förder- und Lernspiele mit ihrem Kind zu spielen, womit sie unbewusst gegen die Traumatisierung durch die Behinderungsdiagnose anarbeiten.

Auch in der Musiktherapie spiegeln sich diese Zusammenhänge zwischen dem Auflösungsstatus der Eltern und dem Spiel der Kinder wider. Mit Auflösung des elterlichen Behinderungstraumas finden Gespräche und Spielgestaltungen der Kinder in der Musiktherapie in einem überwiegend ausgeglichenen Verhältnis statt. Demgegenüber interagieren und kommunizieren Kinder von Eltern ohne Auflösung weniger dialogisch. Es gelingt dennoch in fast allen Musiktherapien, einen kreativen Spielfluss aufzubauen und einen gemeinsamen Spielraum geteilter Spielfreude zu entwickeln. In der Dissertation werden schließlich die methodischen Elemente untersucht und beschrieben, mit denen Spielraum in diesem Sinne entdeckt und zurückerobert werden konnte.

Oliver Paul (2020): Wenn der Spielraum verloren geht. Zum Belastungserleben von Eltern geistig behinderter Kinder und zum kurativen Potential der Musiktherapie. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, 453 Seiten, 49,00 Euro.

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