Prof. Karin Holzwarth über den Aufbau eines Musiktherapiestudiengangs in Palästina

Seit Juli 2017 lehre ich in der Weiterbildung Musiktherapie in der Sozialen Arbeit an der NGO Wings of Hope for trauma in Bethlehem (WOH). Auf dieses Angebot wurde die Al Quds Universität Ost-Jerusalem/ Westjordanland im Frühsommer 2018 aufmerksam. Da es auf palästinensischem Gebiet bis dato keine Bildungseinrichtung gibt, die einen Bachelor- oder Masterabschluss in Musiktherapie anbietet, möchte die AQU dieses Programm etablieren.

Bereits ein Jahr nach dem Entschluss, am 13.07.2019, war in Hamburg feierlich der Kooperationsvertrag zwischen den Präsidenten der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (HfMT) und der Al Quds Universität (AQU) unterzeichnet worden und damit der Grundstein für die Zusammenarbeit gelegt. Im November 2019 konnte ich zum vierten Mal nach Palästina reisen, mit dem Ziel, die Lehrenden im Master-Studiengang Community Mental Health, CMH (kommunale psychische Gesundheit) der AQU persönlich kennen zu lernen und an ihrer Fakultät vor Lehrenden und Studierenden einen Vortrag über Musiktherapie zu halten. In das Studienprogramm CMH ließe sich die Musiktherapie zunächst als so genannter „track“, wie eine Schwerpunktsetzung für die Studierenden, einfügen. Ein eigenständiges Masterprogramm zu entwickeln und vom zuständigen Ministerium für Hochschulbildung akkreditieren zu lassen, wäre ein nächster und größerer Schritt.

Für mich war es ein ganz besonderes und ergreifendes Erlebnis die Lebendigkeit und die beeindruckende Größe des Campus der AQU kennenzulernen. Der Vizepräsident für Innovation, Isam Ishaq, holte meine musiktherapeutische Kollegin Sibylle Stier und mich aus Bethlehem ab, und zeigte uns die Universität. Sie ist gleichsam eine Stadt für sich, umgeben von schützenden Mauern, inmitten der kargen hügeligen Landschaft des Westjordanlands. Eine Oase der Wissensvermittlung. Mit Betreten des Campus sind wir in einer anderen Welt: Alles ist grün, weitläufig, unter Palmen verteilte Sitzgruppen, auf denen Studierende allein und miteinander lernen, in Gespräche vertieft. Ein großer Springbrunnen vor dem Hauptgebäude, Gartenanlagen, die ein wenig an Granada erinnern, eine eindrucksvolle Architektur. Auf den zweiten Blick sehe ich, dass der Rasen aus Kunstgras besteht. Wasser ist kostbar und nicht ausreichend vorhanden, aber die gesamte Atmosphäre ist überwältigend!

Im Gespräch mit der Dekanin der Fakultät Public Health und weiteren Verantwortlichen der AQU wogen wir die inhaltlichen Erfordernisse ab: Welche Studierenden würden wir mit dem Angebot erreichen? Welche Vorbildungen bringen diese mit? Für welche Handlungsfelder werden sie ausgebildet? Zahlreiche offene Fragen, die für uns zunächst geklärt werden mussten, bevor wir aus dem profunden Potential der Musiktherapie die relevanten Themenfelder herausarbeiten und für die Zielgruppe curricular aufarbeiten könnten. Dabei müssen wir uns vor Augen führen, unter welch schwierigen sozialen und politischen Bedingungen die palästinensische Gemeinschaft lebt. Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit haben nach nationalen und internationalen Untersuchungen schon seit Jahrzehnten anhaltend ein krisenhaftes Ausmaß erreicht. Darüber hinaus sind die Palästinenser*innen aufgrund des raschen Wandels in der palästinensischen Gesellschaft selber einem erheblichen Dauerstress ausgesetzt. Die palästinensische Autonomiebehörde ist bei weitem nicht in der Lage, ausreichend Ressourcen bereitzustellen, um die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung im Bereich der psychischen Gesundheit zu gewährleisten.
Auch der Mangel an hierin qualifizierten Fachkräften ist eklatant, zumal an lokal ausgebildeten. Da eine hilfreiche psychische Gesundheitsversorgung jedoch immer kulturspezifisch sein muss, wird deutlich, wie dringend Palästina differenzierte und qualifizierte lokale Ausbildungsprogramme benötigt.

Uns in diesen Kontext mit unseren Erfahrungen zum Potential der Musiktherapie einzubringen, ist ein herausforderndes und sinnstiftendes Anliegen. Ein wesentlicher erster Schritt der gegenseitigen Annäherung schien uns, dem Haus eine Einführung zu geben in Musiktherapie als tiefenpsychologisches Behandlungsverfahren. Hierzu organisierte die AQU am 27.11.2019 eine Vorlesung, zu der alle Lehrenden und Studierenden des Departments eingeladen waren. Sibylle Stier und ich referierten vor einem gut gefüllten Saal und konnten im Anschluss eine lebendige Diskussion führen, nicht zuletzt zur Frage, wieviel instrumentale Fertigkeiten eine Studierende mitbringen müsse, um den „track music therapy“ zu studieren. Reiche es aus „mit Steinen Musik zu machen“, wie eine der anwesenden Lehrenden vermutete, oder bedürfe es ganz im Gegensatz besonders fein ausgebildeter musikalischer Menschen, um diese sensiblen Arbeitsprozesse zu gestalten, wie andere Anwesende anführten?
Für uns war es ein bereicherndes Erlebnis und wir sahen zahlreiche vertraute Gesichter im Publikum von ehemaligen Teilnehmer*innen unserer Weiterbildung für WOH, Bethlehem.

Die Zusammenarbeit zwischen der AQU und der HfMT Hamburg versucht dazu beizutragen, der AQU neue Fähigkeiten und Kenntnisse auf dem Gebiet der Musiktherapie zu vermitteln. Mit Musiktherapie, so ist die Hoffnung der Verantwortlichen an der AQU, wird es möglich sein, in den herausfordernden psychosozialen Beratungsprozessen wie auch den therapeutischen Behandlungen traumatisierter Menschen einen neuen Zugang zu finden, wenn die Sprache in den Behandlungen nicht weiterhilft. Wenn keine Worte gefunden werden können für das Ausmaß dessen, was erlitten wurde und permanent weiter erlitten wird. Daher sind dich die Verantwortlichen an der AQU sicher: „Die Spezialisierung in Musiktherapie ist in Palästina unter Berücksichtigung aller politischen und sozialen Zwänge im Bereich psychischer und psychosozialer Versorgung zunehmend gefragt.“ (I. Ishaq, 2019)

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